Einleitung

Seit der Sprengung eines Turmes in der Frankfurter Innenstadt am 2. Februar 2014 schwirrt ein Begriff in meinem Kopf herum, der seither nicht mehr verschwindet. Zwar war mir der Begriff Brutalismus schon vorher geläufig, doch habe ich ihn bis dato Aufgrund meiner schlechten Französischkenntnisse ziemlich falsch eingeordnet. Dieses Missverständnis habe ich sehr schnell behoben, noch ehe der Turm an diesem Tag gefallen war. Für mich war die Bezeichnung Brutalismus als Baustil gleichbedeutend mit dem Gefühl das bei mir aufkam, wenn ich vor einem solchen Gebäude stand. Ohne mir weiter Gedanken darüber zu machen war die Sache sofort klar, das ist brutal, das ist ungeschliffen. Ich habe dem Baustil nie mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Zwar hat er mich immer gereizt, doch erst jetzt, da es ihm allmählich an den Kragen geht, interessiert er mich richtig.

In Frankfurt wurden schon einige Bauten des Brutalismus aus dem Stadtbild entfernt. Neben dem Turm an der Bockenheimer Warte, der als AfE–Turm bekannt war, wurde das Technische Rathaus 2010, wie auch der Erweiterungsbau des historischen Museum 2011, abgebaut. In der Öffentlichkeit hatten und haben diese Bauwerke schon immer einen schweren Stand. Nicht selten werden sie als Bausünden bezeichnet, zu schwer ist ihr ideeller Wert begreifbar. Selbst in Architektenkreisen wird hart um den Erhalt gekämpft. In Frankfurt scheint dieser Kampf verloren. Dort herrschen einerseits die Gesetze des teuren Immobilienmarktes, andererseits aber eine kommunale Bauwirtschaft, deren bestreben es ist, eine im Krieg verlorene Altstadt wieder aufzubauen. Dennoch regt sich vereinzelter Widerstand. #SOSBrutalism ist eine gemeinsame Initiative des Deutschen Architekturmuseums und der Wüstenrot Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Online-Architekturmagazin uncube. Ziel der Kampagne ist es, Bauwerke des Brutalismus zu erhalten und den ideellen Wert dieser Bauten einer breiten Öffentlichkeit nahe zu legen. Auf ihrer Website werden Nutzer dazu aufgefordert, die Bauwerke ihres Herzens hochzuladen. So entstand eine beachtliche, romantisch anmutende Sammlung von Bauten dieser Ära weltweit. Eine Ausstellung dazu ist in Planung.

Im Mai 2012 fand schon einmal ein Internationales Symposium mit dem Titel Brutalismus. Architekturen zwischen Alltag, Poesie und Theorie in Berlin statt. Dort wurden zahlreiche Beiträge gehalten und Debatten geführt, die das Ziel hatten, über den Erhalt und die Anerkennung als Kulturdenkmal der oft ungeliebten Bauwerke nachzudenken. Dass die Debatte gerade jetzt, oder immer noch, in Frankfurt geführt wird, liegt wohl auch an der Tatsache, dass die im oberen Abschnitt erwähnten Bauwerke bereits verschwunden sind. Zwar war die Stadt Frankfurt, im vergleich zu London, nie reich an Bauten jener Ära. Doch im Bundesdurchschnitt wohl obenauf. Die Stadt hat sich im letzten Jahrhundert als eine sehr moderne Stadt definiert. Das Neue Frankfurt und die Verdienste von Ernst May, der Wiederaufbau nach dem Krieg mit den vielen charmanten Bauwerke der Fünfziger Jahre, die Hochschulbauten von Ferdinand Kramer, bis hin zum Banken- und Hochhausboom. So hat sie sich stets verändert und weiterentwickelt, und ist sehr oft nicht gerade zimperlich im Umgang mit ihrem Erbe gewesen. Zugegeben, über den kulturellen Wert des Technischen Rathauses kann gestritten werden, andere Bauwerke, wie z.B. das Zürich-Hochhaus (kein Brutalismus), den AfE-Turm im Stadtteil Bockenheim hätte man erhalten müssen. Der Abriss des Deutsche Bank Hochhauses (IBCF) ist bereits beschlossene Sache.

Der Kahlschlag jener markanter Gebäude, die, sei es aus politischen, vermeintlich ästhetischen oder finanziellen Gründen abgebaut werden, gibt Anlass zur Sorge. Zumal vieles, was an ihre Stelle tritt, dem heutigen Zeitgeist entsprechend langweilig, glatt und charakterlos ist. Diese Entwicklung ist kein ortsspezifischer Prozess und spannt sich über sämtliche Bauepochen. Doch im Falle des Brutalismus scheint dieser Prozess unaufhaltsam und besonders rasch voranzugehen, gerade wegen der geringen Wertschätzung allerorts. Im angelsächsischen und deutschsprachigen Raum tut man sich schon wegen des Begriffes außerordentlich schwer damit, den Baustil so zu verstehen, wie er gedacht war. Dort geht es offensichtlich vielen wir mir, die intuitiv erst mal nur das brutale wahrnehmen. Doch eigentlich wollte der Brutalismus viel mehr sein, die oberste Doktrin sollte eine reine, sinnliche und nachvollziehbare Architektur hervorbringen, eine, die gerade nichts verschleiern möchte. Was blieb, ist ein vermeintlicher Irrtum und vielleicht das größte Missverständnis der Architekturgeschichte.

Der Brutalismus, so Prinz Charles, habe im Vereinigten Königreich mehr Schaden angerichtet als der Zweite Weltkrieg. Der Prince of Wales gehört zu denjenigen, die brutalistische Architektur am liebsten komplett von der britischen Insel verbannen würden. Der öffentliche Diskurs über den streitbaren Baustil, den der Prinz höchst selbst mit seiner Carbuncle Speech („Abszessen im Gesicht eines lieben Freundes“) schon im Jahre 1984 eröffnet hat, nimmt zuweilen groteske Züge an. Kein anderer Baustil wird so kontrovers diskutiert. Zwischen Befürworter und Widersacher gibt es kaum jemand, dem der Brutalismus völlig egal wäre. Dabei sind die Angriffe auf den Brutalismus sind fast immer ungerecht. Zu massiv, zu grob, zu muskulös. Festungen ohne Bezug zum menschlichen Maß. Das sind noch die harmloseren Attribute, bei denen sich die Gegner bedienen. Doch viele der als brutalistisch verrufene Bauwerke sind gar nicht nach den Grundprinzipien des Brutalismus erbaut worden. Viel mehr wird der Ausdruck als Synonym verwendet, um Bauten zu klassifizieren für die keine weitere Zuordnung bereitstehen.

 

Rückblick, die Anfänge

Die Bezeichnung Brutalismus ist wahrscheinlich älter als der Baustil selbst. Sie geht auf den schwedischen Architekt Hans Asplund zurück. Er kommentierte scherzhaft die Pläne seiner Kollegen Bengt Edman und Lennart Holm für eine Villa, und beschrieb diese als Neobrutalisten.1 Asplund verwendete diesen Ausdruck nicht im eigentlichen Sinne, da es den Baustil wie wir ihn heute kennen noch gar nicht gab. Er benutzte das Wort im Sinne einer Stilbezeichnung, wie etwa neoklassizistisch oder neogotisch. Es leitet sich von béton brut (roher Beton), dem französischen Ausdruck für Sichtbeton ab. Das Wort machte schnell seine Runde und landete schließlich in England, wo sich eine kleine Gruppe junger Architekten das Wort als New Brutalism aneigneten. England befand sich seinerzeit in einer Zeit des Umbruchs. Am London County Council, eine Verwaltungseinheit die für Entwicklung der Stadt u.a. im Wohnungsbau zuständig war, verhärteten sich zwei Fronten. Entweder wurden Bauten in einem neogeorgianischen Stil, dem New Humanism genannten Stil, oder im sogenannten modernen Stil ausgeführt. Die jüngeren Architekten wandten sich gegen den New Humanism. Das New des damals entstandenen Begriffs New Brutalism erklärt sich in diesem Kontext auch als Parodie auf New Humanism.2

Das Architektenpaar Peter und Alison Smithsons erhielt in jener Zeit große Aufmerksamkeit. Obwohl die Planungen für ihre Schule in Hunstanton schon 1949 begannen, also bevor der Begriff New Brutalism existierte, gilt es als das erste in diesem Stil vollendete Bauwerk. Die Smithsons eigneten sich den aus Schweden kommenden Begriff für ihren 1954 fertiggestellten Bau nachträglich an. An diesem Gebäude lässt sich die Doktrin der neuen Strömung am einfachsten ablesen und man versteht genau, was damit gemeint ist. In der praktischen Ausführungen der Smithsons vereinen sich die Werke ihrer theoretischen Vorbilder Le Corbusier und Ludwig Mies van der Rohe, zwei Architekten der Moderne, wie sie (vermeintlich) unterschiedlicher kaum sein konnten. Le Corbusier wird wegen seiner Schriften aus Vers une architecture, vor allem aber wegen seiner Wohneinheit Unité d’Habitation (Bauzeit 1947–1965) in Marseille als Wegbereiter des New Brutalism angesehen. Le Corbusier machte bei diesem Bau aus der Not der gegebenen Umstände ein Tugend, in dem er wegen Baustoffknappheit auf sämtliche Verblendungen und Nachbearbeitungen am Material verzichtete. Er beließ die aus Beton gegossenen Wände so, wie sie die Holzschalung gezeichnet hatte. So blieb die Struktur der verwendeten Schalbretter samt Astlöcher im Beton erhalten. Auch verzichtete er auf das Auswaschen des abhärteten Betons, so dass dieser rau und ehrlich zurückblieb. Diese „rohe“ Verarbeitung war im Brücken– und Industriebau eine gängige Methode. Im Wohnungsbau aber eher unüblich.

Als zweiter Einfluss für den New Brutalismus darf das Werk von Mies van der Rohe gelten, hier vor allem die Bauten des Illinois Institute of Technology (1939–1960). Für das Ehepaar Smithsons war offenbar Mies‘ sensibler Umgang mit den Materialien und das außerordentlichen Gespür für Proportionen und Einklang des Meisters Grund ihrer Verehrung. Im Gegensatz zu der Unité Le Corbusiers, sind die Bauten von Mies van der Rohe Stahl-Skelettkonstruktionen, die Ausfachungen aus Mauerwerk in hellem Backstein ausgeführt und sind meiner Meinung nach eine Fortführung früherer Industriebauten, der Fagus Werke von Walter Gropius, die Industriehallen von Ernst Neufert oder der AEG Turbinenhalle von Peter Behrens.

Smithons Verehrung dieser beiden Architekten ist somit kein Widerspruch. Beide Architekten, Mies und Le Corbusier, stehen der Ingenieurbaukunst sehr nahe. Sie sehen diese als die wahre Baukunst an. Ihr ehrlicher, unverschleierter Umgang mit den Materialien, bis hin zu der Offenlegung des Tragsystems, sowie die Verwendung roher, unbearbeiteter Materialien, das sollte schließlich später das Zentrale Thema der Brutalisten werden. Die Hunstanton Schule ist in dieser Hinsicht radikaler als alles, was vorher gebaut wurde. Die Smithons verzichteten auf jegliche Dekoration. Alle Funktionen sind nachvollziehbar, Wasserleitungen sind vom Anschluss bis hin zum Waschbecken sichtbar. Dasselbe gilt für alle weiteren Installationen. Das Tragwerk blieb unverkleidet, die vorgefertigten Deckenelemente auf der Unterseite roh. Der britische Architekturkritiker Reyner Banham schrieb über die Schule des Architektenpaares 1966: „... indem sie den Stil Mies van der Rohes übernahmen und dann versuchten, ihn zu verbessern. In mancher Hinsicht ist Hunstanton aufrichtiger in Material und Konstruktion als irgendetwas von Mies“.3

Der Stil der Schule in Hunstanton ist, wenn man so will, eine Art überarbeiteter Funktionalismus. Zu den rein formalen Grundsätzen des modernen Bauens haben die Smithsons die Ethik Le Corbusiers, wie er sie schon 1923 in Vers un architecture (deutsch: Kommende Baukunst, engl.: Toward an Architecture) definiert hat, hinzugefügt. So haben sie vieles der vorangegangenen Bauepochen übernommen und für ihren Stil des New Brutalism überhöht, wenn nicht gar radikalisiert.


 

Sozialer Wohnungsbau in England

Viele der im Brutalismus ausgeführten Bauwerke dienten, oder dienen noch heute dem Allgemeinwohl. Was sich heute nach einem Widerspruch anhört, hatte in der Hochphase des Brutalismus einen entscheidenden Grund. Sämtliche Architekten fanden sich seinerzeit am bereits erwähnten London County Council ein. In den Nachkriegsjahren war das der einzige Ort, an dem junge Architekten nach Abschluss ihres Studiums Arbeit finden konnten.4 Im Auftrag des Wohlfahrtsstaates, soziales Bewusstsein hat in England eine lange Tradition, entstanden in den 1950er bis Mitte der 70er Jahren eine Reihe von Bibliotheken, Konzerthallen, Universitäten, Bahnhöfe, Schulen, Museen und Wohnungsbauten im ganzen Land. Die Smithsons gehörten dem LCC seit 1950 an. In einem Wettbewerbsentwurf für die Golden Lane housing Competition (1951–1952), deuteten die beiden an, was sie unter einer modernen Stadtplanung verstanden. Den vier funktionalistischen Kategorien der Charta von Athen: Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr setzten die Smithsons die Kategorien Haus, Straße, Bezirk und Stadt entgegen. Die Rue interieur Le Corbusiers ersetzten sie durch Streets in the air. Ausgangspunkt ihres Entwurfs waren die Straßen der Arbeitervierteln in England, die sie Ort der Kommunikation sehr schätzten. So entwarfen sie einen Gebäudekomplex, dessen Wohneinheiten über einen längsseitig offenen Gang erschlossen wurden. Den Zuschlag für die Bebauung bekamen sie damals nicht. Doch was für das Golden Lane Projekt eine Vision blieb, verwirklichten sie in den späten 60er Jahren beim Großprojekt Robin Hood Gardens im Londoner East End. Die Idee dieser außenliegenden Verbindungsgänge für alle Etagen ist nicht ganz neu. Man findet sie bereits im 17. Jahrhundert bei den Rundhäuser der Hakka in der Provinz Fujian in China, oder bei der 1919 errichteten Siedlung Spangen in Rotterdam von M. Brinkmann. Dieses Prinzip, in England Deck-access housing genannt, verfolgten auch die jungen Architekten Jack Lynn und Ivor Smith, mit einem dem der Smithsons ähnlichen Entwurf für die Golden Lane Bebauung. Zwar erhielten auch sie den Zuschlag nicht, wohl aber den Auftrag der Stadtverwaltung Sheffields, für eine Neubebauung des berüchtigte Elendsviertel der Stadt am Park Hill. Auf drängen der Stadt wurde dort ein ganzes Wohnviertel abgerissen und nach den Entwürfen der beiden im Zeitraum 1957 bis 1961 bebaut. Es entstand das damals größte Bauprojekt im Prinzip des Deck-access housing, mit 3,65 m breiten Straßen auf jeder dritten Etage. Selbst die Wohnungen im Erdgeschoss wurden über die Straßen im ersten Geschoss erschlossen, da jede Wohneinheit, beidseits orientiert, mit viel Licht im Stile einer Maisonette-Wohnung geplant wurde. Die Straßen bekamen die Straßennamen des ehemaligen, abgerissenen Quartiers. Die Idee der Straßen führte so weit, das die insgesamt vier Gebäudeteile des Gesamtkomplexes miteinander verbunden wurden. Daraus ergibt sich in der Aufsicht eine Flussschlingen ähnliche Städtebauliche Struktur auf dem Gelände.5 Die Tragstruktur des Gebäudekomplex ist in brettgeschaltem Beton ausgeführt. Die Trennwände, sowie die Ausfachungen in hellem, in den unteren Etagen mit dunklem Backstein ausgemauert. Der Gebäudekomplex wurde 1998 unter Denkmalschutz gestellt, nach der Sanierung durch einen privaten Investor 2013 blieb allerdings nur die Betonkonstruktion erhalten. Park Hill gehört, wie die bereits erwähnten Golden Lane und Robin Hood Garden, zu einer Reihe von Bauprojekten der öffentlichen Hand, die dem sozialen Wohnungsbau dienten. Bevölkerungszuwächse, „Verslumisierung“ existierender Wohngebiete, aber auch die Folge der Zerstörungen während des zweiten Weltkrieges hatten diese Notwendig gemacht. Zu diesen Projekten zählen weiter: Der Balfron Tower (1965–1967) im Londoner East End, sowie der Trellick Tower im Stadtteil North Kensington. Beide Häuser wurden von Ernő Goldfinger im Auftrag des Greater London Council (ehem. London County Council ) geplant. Ebenso die Alexandra Road Estate (1968–1972) von Neave Brown im Stadtteil Camden und das Barbican Estate (1965–1975) von Chamberlin, Powell and Bon. Alle diese Bauwerke sind in der Liste Statutory List of Buildings of Special Architectural or Historic Interest und stehen daher unter Denkmalschutz.

 

Abkehr von der Doktrin

Die im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Bauwerke würde ich alle einer Kategorie zuordnen, die ich „gemäßigter Brutalismus“ nennen würde. Die im Wohnungsbau realisierten Projekte haben für mich einen realen Charakter. Sie unterliegen den Widrigkeiten der Natur, die verwendeten Baustoffe kommen in die Jahre und wenn sie nicht gepflegt werden, funktionieren sie nicht mehr wie geplant. Beton verwittert, doch wenn anderswo von Patina gesprochen wird, wird einem Gebäude des Brutalismus gerne das Etikett Monster angeheftet. Umso mehr bei jenen Bauwerken, die ich in eine andere Kategorie einordnen würde. Diese Kategorie nenne ich „abstrakter“ oder „überhöhter Brutalismus“, und beschreibe ich im folgenden Abschnitt.

Durch das experimentieren mit dem Baustoff Beton entwickelte sich der Baustil schnell weiter. Auch entstanden weitere Formen, die fast immer monumentaler wurden. Denn Beton ist ein sehr formbarer Baustoff, nahezu alles, was man mit einer Schalung formen kann, kann auch betoniert werden.6 So entstanden immer neue Experimente, sei es aus einer rein geometrischen Vorliebe heraus, oder der Lust am expressiven Gestalten. Weitere Einflüsse kamen aus dem Bereich des Strukturalismus. In dieser Phase verließen viele Architekten den Weg des reinen Formalismus, wie die Smithsons ihn definierten, und überhöhten diesen mit immer stärkeren Mitteln. So finden sich auch immer häufiger Elemente aus dem Brücken– oder Hallenbau in der Architektur. Zu dem kommt, das der Beschaffenheit des Beton, durch Wahl der Zuschlagsstoffen, und der Oberflächengestaltung immer mehr Bedeutung zugemessen wird. Durch verschiedene Zuschlagsstoffe, Kies, Sand etc. lässt sich die Feinheit des Betons bestimmen. So ist der Beton sehr roh, wenn dem Zement der Zuschlagsstoffe Kies beigemischt wird, oder eben fein bei Sand als Zuschlagsstoff. Zudem lässt sich kurz vor dem Abhärten des Betons, sobald die Schalung entfernt werden kann, die Oberfläche bearbeiten. Diese Erneuerungen bedeuteten einen immer größeren Bruch mit den Prinzipien des New Brutalism. Von nun an muss man zwei Strömungen voneinander Abgrenzen. Zur einen die ursprüngliche Idee, den Baustils als eine Art Ethik zu begreifen, die formale wie gesellschaftspolitische Regeln hat, und zur anderen die Entwicklung, die sich offensichtlich nur auf den Baustoff Beton bezieht. Zwar gibt es auch immer noch „Wohnmaschinen“ der ersten Kategorie, doch durch das vermehrte Auftreten einer zweiten, abstrakten Kategorie, fällt es immer schwerer, eine klare Definition dafür zu finden, was mit Brutalsimus eigentlich gemeint ist.

Das Großprojekt Birmingham Central Library, gehört zu dieser zweiten Kategorie. Die 1973 fertiggestellte Birmingham Central Library, über die Prinz Charles später sagen sollte „a place where books are incinerated, not kept“ 7, wird seit Dezember 2015 abgerissen. Obwohl die Organisation English Heritage zwei Anläufe unternahm, die Central Library auf die Liste erhaltenswerter Bauten zu setzen. Auch die öffentliche Petition zum Erhalt des Bauwerks blieb erfolglos. Die Abrissarbeiten dauern noch heute an. Bei den Bürger der Stadt war das Gebäude wenigstens teilweise akzeptiert. Vielleicht auch deshalb, da sich Prinz Charles dazu geäußert hat. Denn immer wenn der Prinz irgendetwas über Architektur sagt, reagiert das Volk eigenwillig darauf. Die Initiative für den Bau ging aus einem ehrgeizigen Stadtentwicklungsprogramm des Birmingham City Council hervor, dessen Ziel es war, die vom Krieg stark zerstörte Mitte der Stadt neu zu beleben. Trotz dieses engagierten Vorhabens wurde die Bibliothek schließlich nur zum Teil nach den Entwürfen errichtet. Die ursprünglichen Pläne sahen Natursteinplatten aus Travertin für die Fassadengestaltung vor, auch wurden Teile des Bauwerkes komplett aus den Plänen gestrichen. Es wurden wirtschaftliche Gründe dafür genannt. Der Bau wurde nach den Entwürfen von John Madin in den Jahren 1973 bis 1974, in Form eines umgedrehten Tempelturms, eines sogenannten Ziggurats erbaut. Der massige Körper, dessen Tragwerke aus einer vorgespannten Stahlbeton-Konstruktion bestand und auf zwölf Stützen lagerte, war mit vorgefertigten Betonteilen abgehangen, die gleichzeitig die Fassade bildeten. Die Innenwände wurden aus Beton gefertigt, nachträglich mit einem Sandstrahler bearbeitet. Bei diesem Bauwerk ist es nicht mehr der roh verschalte Beton der die Oberflächenstruktur bestimmt, sondern ein überarbeiteter Beton mit feinen Zuschlägen, wie etwa Kalksandstein, der die Oberfläche sehr glatt werden lässt.

Die Birmingham Central Library war ein Bauwerk, über dessen verbleib lange gekämpft wurde. In der Stadtverordnung fand es aber offensichtlich zu wenige Anhänger. Darüber hinaus gab es in der öffentlichen Wahrnehmung nur zwei extreme Positionen. Die einen, die es liebten oder zumindest lieben lernten, und die anderen, die es hassten. Ähnliches gilt für das Royal National Theatre in London, welches unter der Bevölkerung als eines der beliebtesten, wie auch als auch eines der meist gehassten Gebäude genannt wird. Dazu gibt es meistens nur kontroverse Meinungen. Was für diese beiden Gebäude gilt, gilt wohl auch für die meisten Bauwerke des Brutalismus. Für das Royal National Theatre hatte Prinz Charles übrigens auch eine Meinung. Er fand, das Gebäude sei: “a clever way of building a nuclear power station in the middle of London without anyone objecting”8

Fazit

Den Brutalismus habe ich für mich, nach gründlicher Prüfung, immer noch nicht ganz definiert. Die Positionen der Smithsons und weiteren Architekten der New Brutalism Bewegung sind zwar relativ klar einzuordnen. Bei den späteren Ausblühungen des Baustils aber kann ich nur noch vermuten, um was es sich handelt. Zum einen haben sich die Regeln des New Brutalism, nach dem Beispiel der Schule in Hunstanton, schnell selbst überholt, und zum anderen haben viele Architekten das Bauen in jener Phase als ein Experimentierfeld zwischen den Perioden der Nachkriegsmoderne und Postmoderne verstanden. Hunstanton blieb unerreicht, wenn gleich das Yale Art Center von Louis Kahn dem Ideal der Smithsons sehr nahe kam. Die Smithsons betrachteten den New Brutalism als unmittelbares Ergebnis einer Lebensweise. Das bäuerliche Leben auf dem Land sowie die Achtung der Japaner vor sinngerechter Anwendung der Baustoffe faszinierten sie. Sie standen mitten in einer Diskussion über modernes Bauen und vertraten Ansichten die zugleich gestrig und hypermodern waren. Des weiteren fällt es mir nach wie vor schwer, den Brutalismus, wie ich ihn als „überhöhten Brutalismus“ bezeichnet habe, in Bezug auf den New Brutalism der Smithsons zu deuten (Außer der Tatsache das der Baustoff Beton ist). Ich persönlich bekomme vielen noch nicht unter einen Hut, so sehr ich mich bemühe. Vielleicht geht es ja nicht nur mir so. Und vielleicht ist der Brutalismus dann gerade deshalb ein einziges Missverständnis.

1 Architectural review, 1956

2 vgl. Brutalismus: Architektur gestern. Brutalistische Architektur, Euphorischer Sozialwohnungsbau, Gewalt gegen Architektur im genannten Kontext, Jesko Fezer, Vorlesung, Wissenschaftsakademie Berlin

3 Reyner Banham: „Brutalismus in der Architektur“; Dokumente der modernen Architektur 5, Karl Krämer Verlag, Stuttgart

4 Reyner Banham: „Brutalismus in der Architektur“; Dokumente der modernen Architektur 5, Karl Krämer Verlag, Stuttgart

5 Dieses Prinzip, das wie eine Vernetzung der Häuser funktioniert, haben die Smitsons in ihrem Entwurf für Golden Lane als Cluster-Block bezeichnet. Der Bergriff stammt allerdings von Kevin Lynch, eindeutig klären lässt sich das aber nicht.

6 vgl.: z.B. Eero Saarinen, Oscar Niemeyer oder auch Ulrich Müther

7 BBC documentary A Vision of Britain

8 Charles, Prince of Wales: A Vision Of Britain: A Personal View Of Architecture, 1989